Bin ich hier eigentlich in Deutschland oder auf La Gomera? Wenn ich durch die Straßen von Valle Gran Rey spaziere, höre ich tatsächlich mehr Deutsch als Spanisch. Auch wenn mich Menschen im Café, am Strand, beim Wandern oder im Supermarkt ansprechen, gehen sie anscheinend davon aus, dass ich eine Landsfrau bin. Außerdem sehe ich auffallend viele Autos und Camper mit deutschen Nummernschildern – diejenigen, die die Mammut-Fahrt nach Cadiz auf sich nehmen, zuerst mit der Fähre nach Teneriffa übersetzen und anschließend nach La Gomera. Bei alledem dürfte es dich kaum wundern, dass ich Valle Gran Rey einen Spitznamen verpasst habe: Klein Deutschland.
Ehemalige Hippie-Enklave Valle Gran Rey
Im „Tal des großen Königs“ im Südwesten der Kanareninsel herrschte einst der sagenumwobene Guanchenkönig Hupalupa, der im Jahr 1488 in einen Aufstand gegen die spanischen Besatzer verwickelt gewesen sein soll. Zahlreiche Legenden ranken um diesen Herrscher aus der vorspanischen Zeit.
Fast 500 Jahre später, in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, entdeckten Hippies und Aussteiger Valle Gran Rey für sich – zunächst Amerikaner und Briten. In den 70er und 80er Jahren sprang der Funke auch auf Deutsche über. Manche sind im Tal des großen Königs alt geworden – teilweise immer noch mit Dreadlocks, luftigen Hanfhosen, Bongo-Trommeln und akustischen Gitarren. Einige kampieren allen Konventionen zum Trotz unter dem Sternenhimmel und ernähren sich von weggeworfenen Lebensmitteln aus den Müllcontainern vor den Supermärkten. „Man kann sehr gut ohne Geld leben“, meint ein älterer Herr mit geschwärzten Fußsohlen. Er zieht barfuß um die Häuser und wirkt glücklich.
Aussteiger und Urlauber in Valle Gran Rey
Obwohl sich in Valle Gran Rey das freie Leben der Blumenkinder immer noch erahnen lässt, tummeln sich in dem Küstenort mittlerweile viele Bade- und Wanderurlauber. Der Großteil zählt zu den Altersklassen 60 und 70 plus – wie die Alt-Hippies, die als junge Leute Deutschland den Rücken kehrten und bis heute auf La Gomera geblieben sind.
Andere haben sich auf der Insel eine florierende Existenz aufgebaut. Ein gutes Beispiel ist Anita, die mir nach einer Wanderung anbietet, mich mit dem Auto ins Tal mitzunehmen. Sie betreibt in Valle Gran Rey eine Bio-Finca und berichtet mir, dass sie sich vor Buchungen kaum retten könne. Außerdem gibt es eine deutsche Bäckerei, deutsche Cafés und Boutiquen.
Meine Freundin Pascale aus Berlin hat dazu neulich einen Kommentar abgegeben: „Das würde mich total stören, in einer mit Deutschen vollgestopften Bucht zu wohnen. Die meinen wohl, sie finden anderswo das Paradies!“
Auch ich habe mir als Auswanderin kein Klein Deutschland als Aufenthaltsort gewünscht. Trotzdem hat die große deutsche Gemeinschaft dicke Pluspunkte bei mir gesammelt. Ein Beispiel: Nach meiner ersten Nacht in Valle Gran Rey kaufe ich mir ein Frühstücksbrötchen und erwarte ein pappiges Exemplar wie in südeuropäischen Ländern üblich.
Nach dem ersten Bissen trifft mich der Schlag der Überraschung: „Das ist ja ein deutsches Brötchen!“, freue ich mich. Schön knusprig, saftig und voller Körner ist es. Deshalb bin ich jetzt regelmäßige Kundin in der deutschen Bäckerei und gebe zu, dass ich Backwaren nach Rezepten aus Deutschland sehr schätze. Mit den Gründen, weshalb ich abgehauen bin, haben Brötchen, Pflaumenkuchen und Co. rein gar nichts zu tun.
Klein Deutschland macht Musik
Es gibt übrigens noch mehr Gründe, Klein Deutschland zu mögen. Valle Gran Rey ist ein Magnet für musikalische Menschen. In der Casa La Musica bei Fränky wird öfters zusammen gejammt. Viele alte Männer spielen Gitarre und singen aus voller Kehle mit – egal, ob die Töne sitzen. Wer keine Klampfe besitzt, der trommelt. Manche Musikbegeisterten bauen sich ihre schamanischen Percussion-Instrumente einfach selbst.
Praktischerweise lassen sich die Trommeln und Gitarren überall hin mitnehmen – auch sonntags in die Bar am Busbahnhof, wenn schräg gegenüber der Kunstmarkt stattfindet. Bei „Sundays at the bus station“ darf jeder mitmachen und die Lebensfreude beim gemeinsamen Musizieren in sich aufsaugen. Genau wie sonntags abends beim meditativen Singing Circle mit Rena Spahr. Bei diesen Aktivitäten kommt man leicht ins Gespräch und knüpft schneller Kontakte als in manch versnobter Community für digitale Nomaden. In Klein Deutschland habe ich das Gefühl, ich selbst sein zu dürfen, ohne für Äußerlichkeiten oder meinen Status beurteilt zu werden. Es ist nebensächlich, ob man in einer Höhle haust oder in einem Luxus-Apartment.
Immer wieder plaudere ich mit Landsleuten, die sich kritisch zur aktuellen politischen Lage in Deutschland äußern. Währenddessen singt der Hallenser Liedermacher Paul Bartsch in der Casa La Musica und an der Busstation gesellschaftskritische Lieder, für die er donnernden Applaus und Zuspruch erntet. Der „alte weiße Mann“ kommt regelmäßig nach Valle Gran Rey, lebt aber immer noch in Deutschland und gibt auch zu Hause Konzerte.
Starke deutsche Community
Als ich eines Abends eine Party der deutschen Community besuche, erzählt mir eine Frau, dass sie sich seit ihrem Wegzug aus Deutschland wunderbar von der Auswanderer-Gemeinschaft getragen fühle. Sie suche aber auch regen Kontakt zu den Einheimischen und kritisiert: „Manche Deutsche schotten sich total ab. Sie wohnen hier seit über 20 Jahren und sprechen kein einziges Wort Spanisch. Auf der anderen Seite regen sie sich über Türken in Deutschland auf, die kein Deutsch sprechen!“
Türken in Deutschland und Deutsche in Valle Gran Rey haben offenbar eine Gemeinsamkeit: Fernab der Heimat bilden sie Gemeinschaften und unterstützen sich gegenseitig. Die negativen Aspekte, die damit einhergehen können, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter thematisieren, denn das würden den Rahmen dieses Artikels sprengen.
Nur so viel: Jeden Tag bekomme ich mit, dass Spanier mit Deutsch bombardiert werden, obwohl sie lediglich ihre Muttersprache beherrschen. Nichtsdestotrotz hat die Sonne einen positiven Einfluss auf meine Landsleute. Sie tragen eher ein Lächeln im Gesicht als in Deutschland und wenn man miteinander redet, ist man sofort per du. Wer immer noch eine Fresse zieht, der ist wohl kurz vorher erst angereist und hat sich vermutlich vor dem Abflug über die unpünktliche Deutsche Bahn, die Regierung oder das nasskalte Novemberwetter geärgert. (as)
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Der Beitrag zeichnet insgesamt ein recht positives Bild vom Valle Gran Rey. Nicht erwähnt wird: die sehr hohen Mieten, die Wohnungsnot der Einheimischen, die Obdachlosen am Strand und die stetig steigendende Kriminalität. Diebstahl kommt ja nun recht häufig vor. Das Geld der Touristen und zugezogenen Ausländer bringt auch einige Schattenseiten mit sich.
Hallo Robert, danke für die Ergänzung. Von der stetig steigenden Kriminalität habe ich bisher nichts gewusst, aber die hohen Mieten (allgemein auf La Gomera) sind mir bekannt. Ich bin jetzt drei Monate am Stück auf der Insel und hatte das Glück, meine Unterkünfte lange im Voraus gebucht zu haben. Was aktuell angeboten wird, ist nur noch Wucher!
Gerade sind 3 verschiedene Polizeitruppen damit beschäftigt, das Valle sauber zu machen mit peinlichen Körpervisitationen, Hundepapierkontrollen und viel Präsenz. Der Strassenverkauf und auch die Strassenmusik werden abgestellt. Ein Teil der Spanier will die „Hppies“ weg haben. Ausdücke wie „Klein Deutschland“ befeuern den Konflikt.
Aber es ist ein Klein Deutschland! Und warum tummeln sich trinkende, kiffende deutsche Obdachlose auf öffentlichen Plätzen? Das ist in der Tat ein Ärgernis für die Spanier. So ähnlich wie Migranten in Deutschland, die sich dort nicht benehmen können. Dass allerdings gegen Straßenmusik und Straßenverkauf an der Playa vorgegangen werden soll, finde ich mehr als schade. Das ist beides eine Bereicherung für den Ort!