Für mich ist es eine Premiere: Nach einer langen Schiffsreise auf der Ostsee verbringe ich zum ersten Mal Zeit in Estland. Einen Monat in Tallinn. Vor diesem Aufenthalt habe ich nur die mittelalterliche Altstadt vor Augen – ihre malerischen Bürgerhäuser, Kirchen, Türme und Stadtmauern habe ich schon oft auf Instagram bewundert. Ich möchte aber auch einen Ausflug in den Lahemaa Nationalpark machen. Busverbindungen dorthin gibt es zwar, doch sie sind rar. Deshalb buche ich einen Tagesausflug mit einer achtköpfigen Reisegruppe inklusive Guide. Was ich während der abwechslungsreichen Tour erlebe, erzähle ich dir in diesem Artikel.
Erster Stopp am Jägala Wasserfall
Der klimatisierte Minibus erwartet uns vor der Touristeninformation in der Altstadt von Tallinn. Es ist ein ungewöhnlich warmer Tag Ende Mai, Badewetter und kaum ein Wölkchen am strahlend blauen Himmel. Wir verlassen Estlands Hauptstadt Richtung Osten und stoppen als erstes am Jägala Wasserfall.
Unser Guide gerät vor dem Schild in der Nähe des Naturspektakels ins Schmunzeln. Darauf steht, dass es sich um den schönsten Wasserfall der Welt handele. „Anscheinend hat das ein Patriot geschrieben“, meint er. „Aber zumindest ist es der größte Wasserfall in Estland.“
Jägala juga, wie er in der Landessprache heißt, liegt ungefähr vier Kilometer vor der Mündung des Flusses Jägala in den Finnischen Meerbusen. Der Wasserfall ist über 50 Meter breit und fast acht Meter hoch. Über eine Kalksteinwand stürzen tosende Wassermassen in die Tiefe. Als ich mich ihnen auf ein paar Meter nähere, erfrischen mich Wassertropfen, die der Wind in meine Richtung weht.
In sowjetischen Zeiten sei das Flusswasser wegen der Industrie mit Chemie verseucht gewesen, erfahre ich. Baden im Jägala Fluss habe deswegen zu schmerzendem Ausschlag geführt. Heute tummeln sich in dem klaren Wasser Forellen und Lachse. Ich verspüre den Wunsch, noch eine Weile am Fluss spazieren zu gehen und meine Füße darin zu kühlen. Wie bei organisierten Ausflügen üblich, mangelt es dafür an Zeit.
Spaziergang im Lahemaa Nationalpark
Durch nicht enden wollenden Kiefernwald fahren wir weiter in den Lahemaa Nationalpark. Er befindet sich ungefähr 70 Kilometer östlich von Tallinn und umfasst eine Fläche von rund 725 Quadratkilometern. 1971 wurde er als erster Nationalpark der damaligen Sowjetunion gegründet. Bevor wir zu einem Spaziergang aufbrechen, erklärt unser Guide, was Lahemaa bedeutet: Land der Buchten. Ich habe es mir bereits gedacht, weil Estnisch und Finnisch eng verwandte Sprachen sind. Durch meine Reisen nach Finnland kenne ich natürlich die Bedeutungen der Wörter „lahti“ (Bucht) und „maa“ (Land).
Der Name ist Programm, denn zum Lahemaa Nationalpark gehören unzählige Halbinseln und Buchten – naturbelassene Küstenstreifen und Wälder, die ich am liebsten auf eigene Faust über mehrere Tage erkunden möchte. Die Sehnsucht danach schwelt in mir, als wir im Viru Bog über Holzplanken durch moosbedecktes Moorland spazieren. Bei diesem Weg handelt es sich um einen der zugänglichsten und bekanntesten Pfade im Lahemaa Nationalpark. So überrascht es mich kaum, dass wir zu Beginn des Spaziergangs auf eine asiatische Reisegruppe stoßen.
Mit meinen Augen, Ohren und der Kamera konzentriere ich mich auf die atemberaubende Landschaft und das Zwitschern der Vögel. Zwischen Heerscharen von Mücken: Im wahrsten Sinne des Wortes fliegen sie auf mich und bedienen sich an mir wie an einer Bar. „Wenn sie dich tausend Mal stechen, hast du ein gutes Immunsystem“, sagt er Guide. Wahrscheinlich haben mich die Mücken im Laufe meines Lebens schon viel öfter angezapft!
Am Holzplankenweg steht ein Aussichtsturm, auf dem mir die Weite des Nationalparks bewusst wird. Moor und Kiefernwald so weit das Auge reicht. Ein Traumziel für Wanderer mit über 40 verschiedenen Wegen. Wie kann ich dem Lahemaa Nationalpark nur einen oberflächlichen Besuch abstatten? Ein paar hundert Meter vom Aussichtsturm entfernt, kühle ich meine Füße im weichen Moorwasser. Es ist sogar tief genug zum Schwimmen. Kurz nach der Erfrischung in der Mittagszeit, bei der ich meinen selbstgemachten Salat verspeise, ist der Holzplankenweg schon zu Ende. Und nun? Ich will weiter wandern!
Estlands Küche ist urdeutsch
Stattdessen fahren wir zum Essen in einem traditionellen Scheunenrestaurant, wo seit dem 19. Jahrhundert Gäste im Lahemaa Nationalpark bewirtet werden. Die Kellnerinnen tragen traditionelle estnische Trachten. Die Kleider und die gesalzenen Preise deuten an, dass hier wohl hauptsächlich Touristen auf Tagestouren essen.
Nach meinem vegetarischen Moorpicknick gut gesättigt, bestelle ich mir einen Kaffee und studiere kurz das fleischige Menü, das sich in einem urdeutschen Landgasthof sicherlich großer Beliebtheit erfreuen würde. Auf der Speisekarte stehen zum Beispiel Blutwürste mit Sauerkraut, riesige Schweinesteaks mit Kartoffeln und eingelegte Heringe. „Unsere Küche in Estland ist deutsch. Das, was von der deutschen Küche übrig geblieben ist!“, scherzt der Guide.
Spuren der Deutschbalten in Sagadi
Wie viel Deutschland in Estland und im Nationalpark Lahemaa tatsächlich steckt, offenbart sich auch beim nächsten Stopp in Sagadi. Eine Mitreisende und ich sind uns einig, dass uns der Kiefernwald stark an Brandenburg erinnere. Beim Anblick des Herrenhauses habe ich Assoziationen mit Schlössern in Potsdam. Der Gutshof von Sagadi ist bereits über 500 Jahre alt. Ja, denn der deutschbaltische Adel bildete über Jahrhunderte die Oberschicht in Estland, bevor er Anfang des 20 Jahrhunderts seinen Einfluss verlor und das estnische Nationalbewusstsein stetig wuchs.
In der Schule habe ich gar nichts über die Geschichte der Deutschbalten erfahren oder es verpennt. Diese Adelsgeschlechter bekleideten wichtige politische Ämter, waren einflussreiche Künstler und Journalisten, die ein romantisches Verhältnis zur Natur pflegten und gerne zur Jagd gingen. Zum Nachteil der Einheimischen, die für sie schufteten.
Wie luxuriös die Bewohner des Herrenhauses von Sagadi lebten, zeigt das noble Mobiliar in den Innenräumen. Die Ausstellung lädt ein zum Eintauchen in ein Stück deutsch-estnischer Geschichte, das spätestens am Ende des Zweiten Weltkriegs zu den Akten gelegt wurde.
Idyllisches Fischerdorf Altja
Nach einer Stippvisite im Waldmuseum in Sagadi kehren wir zurück in den Kiefernwald. Der von Mückenschwärmen heimgesuchte Waldweg am Rande des Dörfchens Altja endet zu meinem Glück an einem traumhaften Sandstrand, wo sich die Mücken verdünnisieren und der Blick auf die Ostsee frei ist. Im Wasser liegen in Ufernähe zahlreiche Steine, darunter der eine oder andere Felskoloss. Auffällig ist auch, dass der Küstenstreifen unbebaut ist. Kilometerweit duftender Nadelwald statt graue Betonklötze für Touristen.
Wir schlendern zu einer ehemaligen Fischersiedlung mit Holzhäusern aus dem 19. Jahrhundert und ich fühle mich in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt. Wenn du mehr über das Leben der estnischen Fischer und Bauern erfahren möchtest, empfehle ich dir, das Viimsi Freilichtmuseum bei Tallinn zu besuchen. Darüber werde ich in einem meiner nächsten Estland-Artikel berichten.
Lohnt sich der Lahemaa Nationalpark?
Würde ich auch zu einem Tagesausflug in den Lahemaa Nationalpark raten? Nur bedingt, obwohl er mir eine gelungene Mischung aus Natur, Kultur und Wissensvermittlung durch den humorvollen Guide beschert. Wie bei organisierten Tagestouren und längeren Rundreisen üblich, hast du keinen Einfluss auf den Zeitplan. Alle Programmpunkte werden flüchtig gestreift, so dass du am Ende des Tages zwar einen Einblick in die Region gewonnen, aber nur an an der Oberfläche gekratzt hast. In einer glücklicheren Lage bist du, wenn du mit dem Fahrrad oder Wohnmobil unterwegs bist und überall so lange stoppen kannst, wo du willst, idealerweise mit deinen Liebsten an deiner Seite. (as)
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Hallo Annika,
danke für den kurzen Ausflug nach Estland, den ich beim Lesen deines Beitrags nun eben machen durfte. Die Bilder vom Lahemaa Nationalpark erinnern mich tatsächlich auch ein wenig an den Hamra Nationalpark in Mittelschweden, wo es auch viel Wasser, Moor und stechende Insekten gibt.
Hallo Klaus,
die schwedische Natur liebe ich sehr! Im Hamra Nationalpark war ich noch nicht. Danke für den Tipp! 😊