Warum bin ich ausgerechnet nach Paldiski gefahren? Das frage ich mich, als ich an einem verregneten Sonntagmittag aus dem Überlandbus von Tallinn steige und mich vorher eine depressive Verstimmung heimgesucht hat. Ich befinde mich in einer bedrückenden Kleinstadt voller sozialistischer Plattenbauten aus der Sowjet-Ära. Wieso wurde mir dieser Ort im Internet als Ausflugsziel vorgeschlagen? Ich flüchte in ein gemütliches Café in der Nähe der Bushaltestelle und überlege mir, wie sich meine Tour noch retten lässt.
Geheimnisvolle Militärbasis Paldiski
Wenn man die abgesperrten Bereiche in der Nähe des Hafens betrachtet, lässt es sich erahnen: Vor 1994 war Paldiski eine der wichtigsten Militärbasen der Sowjetunion. Die Einheimischen bezeichneten den Ort als „das sowjetische Pentagon“. Er war voller Atomraketen und U-Boote und beherbergte das größte sowjetische Atom-U-Boot-Trainingszentrum. Zivilisten war der Zugang verboten. Sie konnten lediglich rätseln, was in dieser verschlafenen Hafenstadt vor sich ging. Als das Militär Paldiski verlassen hatte, verfiel die Stadt, die vor allem bei grauem Wetter das Zeug hat, miese Stimmung zu erhöhen.
Nachdem ich mir viel Zeit gelassen habe, meinen Cappuccino auszutrinken, mache ich einen Abstecher zu der schmuckvollen St. Georgs Kirche (Paldiskis Püha Georgi kirik). Sie wurde 1784 im russisch-orthodoxen Stil erbaut und scheint die bis heute für die Stadtbewohner ein Anziehungspunkt zu sein. Während ich vor dem geschlossenen Eingangsportal mein Mittagessen verspeise, kommen wiederholt Menschen vorbei und bekreuzigen sich mit ehrfürchtigen Blicken. Möglicherweise beten sie für Sonnenschein und gute Laune.
Stürmische Klippenwanderung nach Pakri
Und wirklich, nach dem Kirchenbesuch reißt der Himmel schlagartig auf, so dass ich mich endlich auf den Klippenwanderweg von Paldiski wagen kann. Obwohl die Sonne scheint, stürmt es kräftig auf dem etwa drei Kilometer langen Weg zur Halbinsel Pakri. Ich schließe den Reißverschluss meiner Jacke bis weit unters Kinn und stülpe mir die Kapuze über den Kopf. Während die Böen von der Seite auf mich ein preschen, gehe ich stur geradeaus und konzentriere mich auf die wunderschöne Aussicht. Allzu nah wage ich mich nicht an die Kalkstein-Klippen heran, denn der Sturm wütet so wild, dass er mir bei einem einzigen leichtsinnigen Schritt den letzten Stoß verpassen könnte.
Den Pakri Leuchtturm sehe ich schon aus der Ferne. Er thront auf einer Kalksteinfelswand an der nordwestlichen Spitze der Halbinsel. Um ihn herum parken Camper. Nicht nur für Wanderer ist er ein lohnenswertes Ausflugsziel, denn mit 52,3 Meter Höhe handelt es sich um den höchsten Leuchtturm in Estland. Für fünf Euro Eintritt können Besucher die 275 Stufen erklimmen und die Aussicht genießen (Stand: Juni 2024). Laut einer Erzählung habe der russische Zar Peter der Große höchstpersönlich den Standort für einen Leuchtturm ausgewählt. Dieser alte Turm aus dem 18. Jahrhundert stand jedoch gefährlich nah am Rand der Klippe und wurde deshalb abgerissen.
Grüne Energie aus Paldiski
Neben dem Pakri Leuchtturm gibt es noch andere Riesen in der Umgebung von Paldiski: Im Pakri Wissenschafts- und Industriepark stehen massive Windräder, die in Kombination mit den sozialistischen Bauten in der Stadt ein klares Bild gewisser politischer Strömungen in Europa zeichnen. Die pfeifenden Windräder produzieren Geräusche wie aus einem postapokalyptischen Film. Im Winter wird übrigens abgeraten, unter den Turbinen für grüne Energie spazieren zu gehen. Wer es trotzdem tut, läuft Gefahr, von einem herabfallenden Eisblock erschlagen zu werden.
Anreise per Bus und Bahn
Wenn du in Tallinn Urlaub machst, hast du die Möglichkeit, entweder eine geführte Tour nach Paldiski zu buchen oder die Stadt und die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Am Bahnhof Balti Jaam steige ich in den Überlandbus mit der Nummer 145. Alternativ verkehrt ein Zug, allerdings liegt der Zielbahnhof recht weit außerhalb des Stadtzentrums.
Wusstest du, dass in Paldiski auch Fähren nach Schweden in See stechen? Es gibt eine Verbindung nach Kapellskär, die sich als praktisch erweist, um mit dem Auto nach Tallinn zu gelangen. Von der estnischen Hauptstadt ist das ehemalige sowjetische Pentagon nur knapp 50 Kilometer entfernt. (as)
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