Estland ist ein wunderschönes Land mit reiner Luft, dessen Fläche zu über 50 Prozent von dichten Wäldern bedeckt ist. Dass es sich um ehemaliges Sowjetgebiet handelt, lässt sich ebenfalls schwer leugnen. Sozialistische Plattenbausiedlungen prägen in Tallinn ganze Stadtviertel und könnten fast eins zu eins gegen ähnlich strukturierte Wohnsiedlungen in Ostdeutschland ausgetauscht werden. In düstere Kapitel aus der Geschichte der ehemaligen Sowjetunion kannst du ebenfalls eintauchen. Einer dieser Lost Places ist der Rummu Steinbruch im Kreis Harju. In diesem Artikel nehme ich dich mit in den beliebten Wassersportpark, der einst ein gefürchtetes Arbeitslager war.
Touristenattraktion Rummu Steinbruch
Der Steinbruch am Rande des Dorfes Rummu gilt als Touristenattraktion. Deshalb lassen sich die Touren-Anbieter in Tallinn ihre organisierten Ausflüge dorthin fürstlich bezahlen. Alternativ kannst du mit dem öffentlichen Bus (Nummer 146 oder 148) fahren. Dann kostet deine Fahrkarte pro Strecke nur 3,80 Euro. Für den Eintritt in den Rummu Steinbruch fallen sechs Euro an, erhältlich sind die Tickets direkt am Eingang (Stand: Juni 2024).
An der nahe gelegenen Bushaltestelle befindet sich eine weitere „Sehenswürdigkeit“: das verlassene Murru Gefängnis, in dem die Zwangsarbeiter von Rummu inhaftiert waren. Hier bekommen Besucher die Gelegenheit, zusätzlich zur Besichtigung des Steinbruchs eine Audio-Tour zu buchen und durch die Überreste der Knast-Anlage zu spazieren. Ich denke eine Weile darüber nach und entscheide mich schließlich dagegen. Zu viel negative Energie, die ich nach Tagen extremer Wetterfühligkeit nur schwer verkraften würde.
Wassersport mit morbidem Beigeschmack
Der Abbau von Kalkstein durch Häftlinge gehört im Rummu Steinbruch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Vergangenheit an. Längst ist der einstige Tagebau ein Naturschutzgebiet und Magnet für Wasserratten, die dort baden, im Café die Seele baumeln lassen, SUP und Tretboote mieten. Außerdem gibt es eine Tauchstation, damit Abenteuerlustige in das Gefängnis unter Wasser vordringen können.
Ja, richtig, Rummu hat sich unter Tauchbegeisterten als Unterwassergefängnis einen Namen gemacht. Nach den aufregenden Tauchgängen können sie sich in einer Sauna am Seeufer aufwärmen oder mit der Familie und Freunden grillen. In regelmäßigen Abständen finden im Rummu Steinbruch auch Konzerte und Festivals statt.
Ehemaliges sowjetisches Arbeitslager
All diese Freude spendenden Outdoor-Aktivitäten bekommen einen morbiden Beigeschmack, wenn man sich mit der Geschichte von Rummu beschäftigt. Zur Gewinnung von Kalkstein und Marmor entstand dort ab 1938 ein Steinbruch. Um möglichst wenig Geld in Arbeitskräfte zu investieren, wurden im Dorf die drei Gefängnisse Rummu, Murru und Vasalemma gebaut. Fortan waren Häftlinge gezwungen, unter extremen Bedingungen im Tagebau zu schuften. Bei den ersten Kasernen handelt es sich um Holzkonstruktionen, die Oberhand hatte das sowjetische Militär.
Die heute noch sichtbaren Betongebäude und Wachtürme am Rummu Steinbruch stammen aus den 1960er bis 1980er Jahren und entsprechen dem damaligen Bild einer Gefängniskolonie. Zwischen 1960 und 1970 wurde der finstere Sowjet-Knast zu einer Steinbruch- und Kalksteinfabrik ausgebaut. Täglich leisteten dort bis zu 400 Häftlinge Zwangsarbeit. Als der Kalkstein in den 1970er Jahren allmählich zur Neige ging, wurden die Insassen in der Metall- und Holzindustrie eingesetzt. Das Gefängnis diente fortan als Fabrik, wo die Gefangenen häufig in drei Schichten antreten mussten – unter anderem für die Rüstungsindustrie.
Künstlicher See im Rummu Steinbruch
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre erlangte Estland seine Unabhängigkeit zurück und änderte das Rechtssystem so, dass Häftlinge nicht mehr zu menschenunwürdiger Arbeit gezwungen werden durften. Abgesehen davon gab es für die Industrie keinerlei Verwendung mehr.
Da die Arbeiten im Rummu Steinbruch schon seit ihren Anfängen einen Wasserüberlauf des Grundwassers verursacht hatten, wurde es zur Versorgung des Dorfes in einen kilometerlangen Graben gepumpt. Mit dem Ende des Arbeitslagers endete auch die Wasser-Umleitung, und zwar aus Gründen, über die bis heute spekuliert wird. Eine der Theorien besagt, dass eine Stromrechnung nicht bezahlt worden sei und es deshalb in den 1990er Jahren zu einer Überflutung des Geländes gekommen sei.
Das Ergebnis ist ein künstlicher See, der wegen des hohen Kalkgehalts türkisblau strahlt wie eine Lagune. Offiziell geschlossen sind der Steinbruch und das Murru Gefängnis seit dem 1. Januar 2013.
Der Ascheberg von Rummu
Ebenso menschengemacht wie das Wasserparadies ist der Berg am Rande des Sees. Die Überreste des Kalksteinabbaus wurden aufgeschichtet, so dass sie zu einem Abraumberg mit spektakulären Formationen angewachsen sind. Vor allem im Sonnenuntergang erfreut der sogenannte Ascheberg die Augen von Fotografen. Um einen fantastischen Blick über den Rummu Steinbruch mit dem See und den Gefängnisanlagen zu erhaschen, solltest du den kurzen Weg nach oben wandern. Am Rande des steilen Abgrunds wirst du erkennen, wie nah Schön und Schrecklich beieinander liegen können. (as)
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Toller Bericht, Anni
Danke! Du solltest auch ein bisschen mehr reisen.